„Die Steinflut“ im Theaterstudio Olten |
26./27. Oktober 2012 |
Eine wachsende Angst, die aus dem Dunkeln kommt |
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Franz Hohler schrieb diese Novelle 1998 zur wahren Geschichte des Felssturzes
von Elm im Jahre 1881, den die siebenjährige Katharina Disch im Haus der Grossmutter
überlebte. Ihre ganze Familie mit dem neugeborenen Kind ging in den Steinmassen unter.
Was die begabte Schauspielerin Cornelia Montani unter der Regie von Klaus Henner
Russius aus dieser Novelle im Theaterstudio am Samstagabend auferstehen liess,
war von einmaliger Prägnanz und Stärke. Sie spielte die verschiedensten Rollen
einer Familien- und Dorfgemeinschaft im lebhaften Wechsel, veränderte die Posen,
die Stimmen und liess aber den Spannungsbogen der eigentlichen Geschichte keinen
Augenblick aus den Augen.
Die siebenjährige Katharina spielte Montani in feinen Differenzierungen. Sie
stieg spielerisch und liebevoll, aber immer mit einem bewussten Hang zur Realität
und frei von jeder Pathetik in diese kindliche Rolle ein und zeichnete in
ihrer träfen Mundart eine Katharina auf, die dem Publikum unter die Haut ging.
Das Mädchen, das sich am Bruder nervte, aber glücklich mit ihm im gleichen Bett
schlief und sich zugleich in der Welt der Erwachsenen zurechtfinden wollte,
erlebte man in feinen Schattierungen. Man vernahm viel über ihre persönlichen
Wahrnehmungen, wenn sie zum Beispiel in der Wirtschaft ihres Vaters hinter dem
Ofen sass und den Gesprächen der Dorfbewohner zuhörte. Man erlebte den blinden
Mann am Fenster mit seiner Mütze, den Förster und all die Figuren, die eine
solche Berggemeinschaft an einem kleinen Ort prägten. Vernahm Geschichten über
menschliche Zusammenhänge, über Feindschaften, über Wichtigtuereien, über Dummheit,
und über solche, die es eigentlich gewusst hätten, was zu tun gewesen wäre,
bevor der Berg kam. Der Schieferabbau musste wegen dem verdammten Regen aufgegeben
werden, denn es regnet ununterbrochen, tagelang, und der Felsspalt nahm
unheimliche Volumen an. Vielleicht wollte der Berg auch nie, dass man seinen
Schiefer abbaute. Doch rund 140 Menschen mussten von dieser Arbeit im kleinen
Dorf Elm leben. Und während Katharina ihre Befindlichkeiten in der Gestalt
dieser grandiosen Schauspielerin präsentierte, mit ihrem Brüderchen schimpfte,
wie dies nun mal Schwestern tun, auch die Grossmutter genau beobachtete, die
Base und die Vettern und dabei doch ganz in ihrer kindlichen Welt haften blieb,
war eindrücklich zu erleben. Reizvoll auch die Ankunft der gescheiten Hühner,
die auch ihr Leben retten wollten, und diejenige der Katze Züsi, die den Felssturz
ahnte, wie dies bei Tieren oft der Fall ist. Doch die Menschen glaubten diesen
Anzeichen nicht, auch nicht dem immer grösser werdenden Felsspalt, den riesigen
Felsbrocken, die sporadisch ins Tal donnerten. Und obwohl sie genau in der
Absturzschneise sich befanden, blieben sie am Ort, harten aus. Unverständlich
und doch so bezeichnend für uns Menschen! Die meisten unangenehmen Dinge verdrängt
man, weil man sie nicht wahrhaben will, und die Warner, die noch das Gespür dafür
hätten, macht man lächerlich.
Nach der Taufe drängten alle in das väterliche Haus zurück, auch die Grossmutter
und das Brüderchen, auch einige der Vettern, um das Neugeborene zu sehen. Nur
die Base blieb mit ihrem kleinen Kind bei Katharina, die nicht gehen wollte, konnte,
denn sie ahnte das kommende Unglück, den Felssturz, der dann auch in der Nacht kam
und alle unter sich begrub. Das Publikum lebte mit, suchte nach den Hühnern, nach
der Katze, nach dem plärrenden Brüderchen, der nicht alles in seinem Körper unter
Kontrolle hatte, hörte das Schmatzen der essenden Vettern an ihrem Kartoffelschmaus,
die Grossmutter, die die Baldriantropfen nahm, und erkannte, dass der Mensch in
seiner Ahnungslosigkeit täglichen Verrichtungen nachgeht wie eine tickende Uhr,
dabei ist die Zeit schon lange abgelaufen. Hohlers Novelle bekam zarte Nüancen,
erlebte eine Renaissance in einmalig eindrücklicher Art dank dieser begabten Interpretin.
MADELEINE SCHÜPFER
Gemeinde-und Schulbibliothek Turbenthal |
Donnerstag, 25. Okt. 2012 |
Theaterspiel in Vollendung |
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(mf) Einen Hochgenuss dieser Kunst erlebten die Zuschauer am 25. Oktober im Singsaal
des Schulhauses Breiti in Turbenthal. Mit dem Erzähltheater in Mundart, nach der
Novelle von Franz Hohler, bereitete Cornelia Montani den Besuchern an diesem Abend
eine kulturelle Erfahrung auf höchstem Niveau.
„Die Steinflut“
Als sich am 11. September 1881 der grosse Bergsturz von Elm ereignete, veränderte sich
das Leben der kleinen Katharina. Sie besuchte an diesem Tag zusammen mit ihrem kleinen
Bruder Kasper die Grossmutter oben in der ‚Bleigge‘, weil die Mutter zu Hause das neue
Geschwisterchen zur Welt bringen sollte. Die ständig fallenden Felsbrocken verhiessen
nichts Gutes. Die Geschichte bot FranzHohler den Stoff für seine Novelle „Die Steinflut“.
Einleitend erzählte Cornelia Montani in Mundart dem Publikum die Geschichte, die der
siebenjährigen Katharina einst wiederfahren ist. Spärliche Requisiten auf der Bühne,
ein alter roter Tisch, ein Schemel, ein Stuhl, Bauklötze und eine Puppe, das waren die
einzigen Utensilien, die die Künstlerin für dieses Stückbrauchte. Im direkten Blickkontakt
schuf sie den Eindruck, für jeden einzelnen zu spielen. übergangslos wechselte Cornelia
Montani von der Erzählung ins Spiel. Sie schlüpfte in jeden einzelnen Charakter des Stückes
und verlieh ihm durch Mimik, Körperhaltung und einer unwahrscheinlichen stimmlichen Brillanz
Charisma. Ob sie nun den kleinen Kasper, Vetter Paul, es Bäsi, den blinden Meinrad oder
die Grossmutter spielte, der Zuschauer fühlte die Präsenz aller Personen auf der Bühne.
Selbst den Verständigungs-Jodel vom Tal hoch zur Bleigge, tönte laut, hoch und weithin
hörbar, durch den Singsaal. Katharina fühlte intuitiv, dass der Berg kommt. Sie ging
nicht mit ins Untertal, um ihr neues Geschwisterchen zu begrüssen. Sie wollte erst am
nächsten Tag nach der Schule nach Hause gehen. „Miinetwäg, dänn bliib halt, Du Trotzchopf“,
sagte damals die Grossmutter, ging mit den anderen in Tal und liess sie zurück. Darum
überlebte Katharina das Unglück und sie sah keinen ihrer Familie und niemanden von Freunden
und Bekannten je wieder.
Es gelang Cornelia Montani perfekt die Dramatik und die gesamte Tragödie des Bergsturzes
von Elm ins Publikum zu transportieren. Das Licht ging aus und es war stockdunkel im Raum.
Fasziniert, ja beinahe hypnotisiert sassen die Besucher auf ihren Plätzen. Es war mucksmäuschenstill.
Erst nach einer gefühlten endlosen Zeit, ein zaghaftes Klatschen. Wie erlöst applaudierte
das Publikum unaufhörlich. Cornelia Montani verbäugte sich zig Male. Noch immer ‚gefesselt‘
blieben die Leute sitzen und begannen zögerlich sich zu unterhalten. Niemand verliess den
Saal. Die Künstlerin mischte sich unter die Zuseher und es wurde noch lange angeregt
geplaudert, bevor der Abend definitiv zu Ende ging. Eine unglaubliche Vorstellung,
die nachhaltig Eindruck hinterlässt.
Zürich. Sogar Theater - Der Abend ist ein gutes Beispiel dafür, dass sich mit wenig
viel bewirken lässt. Das Wenige besteht hier aus einem Tisch und darauf ein Dorf aus
Holzhäusern, aus zwei Stühlen, einem Laken, einer Stoffpuppe und der Schauspielerin
Cornelia Montani. Die erzählt auf Mundart von der siebenjährigen Katharina Disch, die,
bis die Mutter das fünfte Geschwisterchen geboren hat, mit ihrem vierjährigen Bruder
Kaspar zur Grossmutter geschickt wird. Und auch deshalb als eine von wenigen am
11. September 1881 den verheerenden Bergsturz von Elm überlebt.
Es ist eine wahre Geschichte die Franz Hohler 1998 zu seiner Novelle «Die Steinflut»
verarbeitet hat, und das Erzähltheater basiert darauf. Mit ruhiger Stimme und prägnanten,
aber zurückhaltenden schauspielerischen Sequenzen nährt Montani das eigene Kopfkino.
Sie lässt die Katze miauen, die Hühner gackern, lässt teilhaben an den hilflosen
Diskussionen über die herabpolternden Steine im Wirtshaus von Katharinas Eltern,
an der ersten Liebe ihrer grossen Schwester Anna. Und sie spielt Katharina selbst,
in der sich - zwischen Überlegungen zum Kinderkriegen, Ärger mit dem kleinen Bruder
und den aufgeschnappten Gesprächen der Erwachsenen - eine wachsende Angst vor dem nahenden
Unheil breitmacht. Das ist amüsant und wird doch immer beklemmender. Als der Berg dann
ins Tal stürzt und Cornelia Montani die Holzhäuser mit einer knappen Bewegung vom Tisch
wischt, fühlt sich das nach 75 berührenden Minuten auch erlösend an.
ISABEL HEMMEL
Haben die Felsen, die vom Tschingelberg in Richtung des Glarner Dorfes Elm
hinunterfallen eine Bedeutung? Wahrend «der Rhychner» sich Sorgen macht, lacht
der «Bergführer Elmer» über ihn. Ein Angsthase sei er. Das kriegt die 7-jährige
Katharina Disch mit. Als Wirtstochter sitzt sie mit der Schiefertafel in der
Gaststube der «Meur» und lauscht den Gesprächen der Schnaps trinkenden Männer.
Sie fragt sich: Ist man eine Angsthase, wenn man nicht von einem Felsen erschlagen
werden will? Vorahnungen hat auch der Förster Marti aus Matt, der das Dorf evakuieren
möchte, doch auf ihn wollen die Eimer nicht hören. Ihnen wäre lieber, das geschlossene
Schieferbergwerk würde wieder aufgehen und sie könnten zum Alltag übergehen. Doch
dieser sollte so schnell nicht mehr zurückkehren. Am vergangenen 11. September
jährte sich der Tag des Bergsturzes von Elm 1881, ein Sonntag, zum 130. Mal.
114 Dorfbewohner, unter ihnen 37 Kinder, fanden bei dem Unglück den Tod.
Der Regisseur Klaus Henner Russius inszeniert diese Episode der Schweizer Geschichte
mit der Schauspielerin Cornelia Montani in einem ergreifenden Mundart-Solostück mit
schlichter Bühnenausstattung entlang von Franz Hohlers Novelle «Die Steinflut».
Am 10. September wurde die Inszenierung in Elm uraufgeführt. Bei der Zürcher Premiere
zeigte sich der Autor Franz Hohler begeistert. Er sei überzeugt, dass ein einzelner
Schauspieler einen Kosmos erschaffen könne. Das ist Cornelia Montani gelungen: Sie
stellt nicht nur Katharina dar, aus der Sicht «Die Steinflut» geschrieben ist, sondern
wechselt virtuos zwischen dem 4-jährigen Bruder Kaspar, der Grossmutter und allen weiteren
Figuren hin und her. Den Bergsturz scheinen wir «live» mitzuerleben, was auch daran liegt,
dass Montani als Katharina in die Ich-Form wechselt. Weil Katharinas Mutter gebären sollte,
wurden sie und Kaspar «auf die Blaiggen» zur Grossmutter geschickt. Dass Katharina
dieses Unglück überlebt, ist dieser Tatsache zu verdanken. Mit dem Mädchen werden wir
Zeugen, wie die Felsen in drei Phasen ins Tal fallen, dorthin wo «die Meur» steht, das
Wirtshaus der Eltern. Es ist eine Tragödie, bei der ein Kind zuschauen muss, wie eine
kleine Welt untergeht.
KATJA BAIGGER
Cornelia Montani gibt in der Kellerbühne «Die Steinflut» von Franz Hohler. Im Zentrum steht
die siebenjährige Katharina, aber Montani spielt auch Grossmutter und Bergführer, ja sogar Hund und Katz.
Seltsame Dinge passieren im September 1881 im Untertal in Elm.
Die Mutter liegt bleich und schnaufend im Bett, die Haare
offen, die Hände kalt. Man muss die Hebamme rufen, damit sie das
Kind aus dem Bauch zieht. Aber wie soll das gehen? Wo ist der
Bauch so weit offen? Die siebenjährige Katharina wird weggeschickt,
zusammen mit dem vierjährigen Kaspar soll sie zur Grossmutter
in die «Bleiggen».
Eindringliche Präsenz: Cornelia Montani ist eine begnadete Erzählerin.(Bild: Benjamin Manser)
Mit Kinderaugen
Seltsame Dinge passieren auch oben am Berg. Er donnert. Ab und
zu rollen Felsblöcke herunter.Das Dorf ist wie immer, Osi schwänzt
die Schule und Anna ist schwer von Begriff. Es regnet seit sieben
Tagen, der Berg grollt, die Männer reden von nichts anderem – aber
Angst haben? «Wir doch nicht», höhnt der Bergführer Elmer. Katharina
schaut und hört zu. Angsthasen werden verspottet, das
weiss sie schon.
Cornelia Montani ist diese Katharina Disch. Die Schauspielerin
erzählt die Geschichte des Bergsturzes von Elm aus der Perspektive
der Siebenjährigen, die ahnt und doch nicht weiss, wie ihr geschieht.
Diese Katharina «täubelet» und «rätschet», sie spielt verträumt
mit den Puppen und fürchtet sich vor den Geistern, die
ihr aus dem Abort kalt an den Hintern blasen. Sie versteht nicht,was
die Erwachsenen reden, und spürt doch viel besser als sie das
sich anbahnende Unheil.
Charakterstark
Der Text trägt. Er baut eine Spannung auf zwischen der Welt
des Kindes und jener der Erwachsenen, zwischen der Wahrheit der
Dinge und jener des Gespürs, zwischen der historischen Geschichte
und der biblischen von Noah und der Sintflut. Das Theater hält
sich eng an die Novelle «Die Steinflut» von Franz Hohler (1998), die
Montani in eine schweizerdeutsche Bühnenfassung gebracht hat
(Regie: Klaus Henner Russius, Musik: Michael Wernli).
Das Stück verzichtet auf eine schauerlich donnernde Geräuschkulisse.
Für die akustischen Eindrücke ist primär die
Schauspielerin selbst zuständig. Cornelia Montani hält sich in diesem
Programm als Sängerin zurück, aber die Stimme bleibt ihr
wichtigstes Instrument. Mit subtilen Veränderungen wechselt sie
nahtlos von der reinen Erzählhaltung in ein Rollenspiel, gibt das
überkandidelte Bäsi oder den introvertierten Fridolin. Für den
rechthaberischen Johannes setzt sie sich breitbeinig an den Tisch,
als Katharina macht sie sich schmal und blickt von unten. Es
ist keine übertriebene Theatralik im Spiel, und trotzdem werden
diese Figuren lebendig und erhalten Charakter.
Kleine Kabinettstücke gelingen der an der Scuola Teatro Dimitri
ausgebildeten Künstlerin auch immer wieder mit Tieren: Hund
Nero ist ein Ungeheuer, aber wenn die Katze Züsi dem Kind um
die Beine streicht, werden diese ganz weich und gehen der Berührung nach.
Der «Chlagg» geht auf
80 Minuten lang steht Cornelia Montani ganz allein auf der Bühne – mit
praktisch nichts als dieser Geschichte. Doch mit ihrem Gespür
für die Magie des Erzählens und ihrer eindringlichen Präsenz
gelingt es ihr, die Spannung hoch zu halten.
Immer mehr seltsame Dinge passieren. Tiere aus dem Tal suchen
Zuflucht in der «Bleiggen». Katharina will nicht heim. Sie beobachtet
den «Chlagg», der sich oben am Berg von Tag zu Tag weiter
öffnet, die ersten Tannen verschluckt und schliesslich nicht
mehr hält: Am 11. September1881 stürzt der Berg ins Tal.
Katharina Disch überlebt als einzige ihrer Familie und der
Nachbarschaft im Untertal. Einzig der freche Osi war in Matt und hat
so auch den Bergsturz geschwänzt… Ein Schluss, der zwischen
Lachen und Weinen changiert. Ein passender Schluss für
diesen intensiven Theaterabend in der Kellerbühne.
EVA BACHMANN
Neue Zuger Zeitung |
Samstag, 12. Nov. 2011 |
Im Burgbachkeller stürzt der Berg donnernd ins Tal |
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ZUG Bald wirft der Berg mit Steinen nach Menschen.
Cornelia Montani lässt Angst und Schrecken wachsen. Langsam zwar, aber stetig.
Die Häuschen auf dem Tisch sind zum Scheitern verurteilt. Im Burgbachkeller
hat man sich gerade erst hingesetzt, aber das drohende Unheil liegt dick und
schwer auf den hölzernen Spielzeughäusern, kaum ignorierbar. „Die Steinflut”
heisst das Stück nach der gleichnamigen Novelle von Franz Hohler. Gerade noch
hatte die Produktionsleiterin Ursula Pfister davon berichtet, wie sie das Stück
in Elm geprobt hatten, dem Unglücksdorf, das jetzt holzig auf dem Tischchen
liegt. Wie die Bevölkerung darauf reagiert hatte auf das Stück – gut nämlich,
und berührt.
Vielseitig im Alleingang - Cornelia Montani.(Bild: Werner Schelbert)
Rolle für Rolle
Ganze Familien wurden ausgelöscht damals vor hundertdreissig Jahren; sie
liegen schwer im Dorfgedächtnis. Ein halbes Dorf, begraben unter drei Felsstürzen.
Jetzt stehen sie noch, die Holzhäuser auf dem Tisch, dahinter ein
vergilbtes Leintuch als Bühnenbild. Darin die Schauspielerin Cornelia Montani.
Sie ist gleichzeitig die Schenkenkatze, das Wirtepaar, die Gäste und vor
allem die Tochter Katharina, die gut zuhört, wenn das halbe Dorf über die
Bedeutung der Felsbrocken grübelt, die immer öfter den Hang herabkullern.
Montani spielt fantastisch das Mädchen und alle anderen, schmeisst sich
die Rollen um wie neue Jacken und führt das Publikum durchs Dorf, zu
Angebern und Streithähnen, Blinden und Alten, Schönen und Jungen. Und
man fühlt sich halb in Sicherheit, aber niemals ganz. Immer wieder donnert
ein Stück vom Berg ins Tal. Ein Angsthase, wer sich davor fürchtet.
Aber Montani ist komisch und lebhaft, erzählt als Katharina mitten im
Gewitter dem verängstigten Bruder die Geschichte von der Sintflut. Wie alle
Murmeli und Steinböcke in die Höhe rennen, und am Schluss auf der Krete
stehen. „Und die Murmeli machen einen letzten Pfiff”, sagt sie und spitzt in
Murmeltierpanik die Lippen, „dann hat sie der See geschluckt.” Das Publikum
lacht, aber der Riss im Berg wird immer grösser. Dann geht das Schieferwerk zu
– hundert Arbeitsplätze – wohin mit den Leuten?
Es fehlt an Särgen
Und die Kommission, die sich den Berg besieht, die kommt aus dem nächsten
Kaff. Darum sollte man kein Wort glauben über Evakuation und Gefahr.
Stattdessen weiter wie gehabt. Montani verkündet – jetzt als Schreiner: „Mer
bruched dringend neui Särg”, weil zwei tote Zwillinge gerade die letzten Kindersärge
aufgebraucht haben. Und man sollte lieber von allen Grössen welche
auf Lager haben. Und überhaupt, mit all den von Steinen umgeknickten Bäumen,
„da könnte man für das ganze Dorf Särge zimmern.”
Aber egal, denn jetzt gibt es Kartoffeln und Kräuterschnaps. Und Katharina
muss sich mit ihrem kleinen Bruder herumschlagen, der das Bett nässt und
sich über ihr Puppenhaus erbricht. Und Montani bringt es fertig, dass das unterschwellige
Unwohlsein stetig steigt. Jetzt glaubt man schon keine Sekunde
mehr an die Idylle, obwohl noch gar nichts geschehen ist. Ausser der Flucht
der Katze, die aus dem Dorf entwischt ist, und zwei herrenlosen Hühnern, die
ebenfalls das Weite gesucht haben, nur nicht weit genug. Und erst am Schluss,
als alles untergeht, als alle rennen (nur nicht schnell genug), als es mit Montanis
leiser Stimme donnert und kracht wie hundert Gewitter und das Publikum
beklemmt im Stuhl sitzt, erdrückt unter Stein und Staub, und sich erst
hörbar entspannt, als endlich das Licht ausgeht. Fünf Mal muss Montani nach
vorne kommen, so lange klatscht man.
FALCO MEYER
glarus24.ch, onlineZeitung für das Glarnerland |
Montag, 12. Sept. 2011 |
Blick auf die Katastrophe durch Kinderaugen |
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Am letzten Samstag hatte das Erzähltheater
„Die Steinflut”, gespielt von Cornelia Montani im Beisein von Autor Franz Hohler,
Uraufführung im Gemeindehaus Elm. Aus der Sicht des siebenjährigen Mädchens
Katharina Disch schildert das Werk die letzten Tage vor dem Bergsturz von Elm,
der sich vor genau 130 Jahren ereignete.
Cornelia Montani blickt in „Die Steinflut” als Katharina Disch auf den Bergsturz von Elm. (Bild: jhuber)
Es ist eigentlich ein freudiges Ereignis, welches die siebenjährige Katharina Disch
und ihren vierjährigen Bruder am 9. September 1881 zu ihrer Grossmutter in die
„Bleigen” bringt. Ihre Mutter erwartet ihr nächstes Kind und die jüngsten Geschwister
sollen nicht im Weg stehen. Auf ihrem Weg zur Grossmutter hört sie immer wieder das
Grollen und Rumpeln vom Landesplattenberg, Felsen stürzen ins Tal, auch dorthin,
wo die Eltern einen Gasthof führen. Aus der Sicht des jungen Mädchens schildert
„Die Steinflut” von Franz Hohler die letzten Tag vor dem Bergsturz von Elm.
Die Katastrophe zerstörte einen grossen Teil des Dorfes und kostete zahlreichen
Menschen das Leben. So auch fast der ganzen Familie von Katharina. Nachdem die
Mutter ein kleines Mädchen zur Welt gebracht hat, macht sich die Grossmutter und
weitere Verwandte, darunter auch der kleine Bruder von Katharina, auf den Weg ins
Dorf und zur Familie. Katharina bleibt aus Angst auf dem Hof auf der „Bleigen”
zurück. „Die Steinflut” ist dabei kein dokumentarischer Bericht über die Ereignisse
vor und während der Katastrophe. Vielmehr schildert die Novelle von Hohler das Leben
eines jungen Mädchens in einem Bergdorf im vorletzten Jahrhundert. Für viele Sachen
ist Katharina nun zu alt, so bekommt sie kein Schleckzeug mehr, muss dafür überall
anpacken. Über vieles wird das aufgeweckte Mädchen jedoch nicht aufgeklärt.
Nur durch die Schilderungen am Essenstisch oder in der Wirtsstube kann sie sich ein Bild
machen, wie die Elmer mit der sich ankündigenden Katastrophe auseinandersetzen.
Unterschiedliche Ansichten prallen aufeinander. Das für die Katastrophe mitverantwortliche
Schieferwerk ist für Hunderte Elmer Existenzgrundlage, die Schliessung selber wäre für sie
fast eine gleichgrosse Katastrophe. Andere können nicht fliehen, weil sie sonst nichts haben.
Oder wie die Familie von Katharina, weil die Mutter im Kindbett liegt.
Da sich der Bergsturz 2011 zum 130. Mal jährt, wurde die Novelle von Franz Hohler in ein
Erzähltheater umgeformt und am letzten Samstag feierte es Uraufführung im Gemeindehaus Elm.
Die Schauspielerin Cornelia Montani springt dabei virtuos von der Hauptfigur in die Nebenrollen
und erweckt viele Szenen für den Zuschauer plastisch zum Leben. Eindrücklich wie sie als
Katharina vom Küchenfenster aus die Katastrophe schildert, wie die Steinflut die Häuser
unter sich mitreist und ihre Opfer nicht mehr frei gibt. Das Erzähltheater wird noch am
Donnerstag, 29. September, und Freitag, 30. September, im Gemeindehaus aufgeführt.
Anschliessend gastiert das Ensemble in ausgewählten Schweizer Städten.
JÜRG HUBER
Die Südostschweiz |
Montag, 12. Sept. 2011 |
„Die Steinflut” erinnert an die Katastrophe von Elm |
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130 Jahre nach dem Bergsturz gedenkt Elm der Katastrophe mit der Uraufführung von „Die
Steinflut” nach Franz Hohlers Novelle. Cornelia Montani brilliert als Katharina.
„Was hat das zu bedeuten?”
Die Schauspielerin Cornelia Montani als Katharina ist von
düsteren Vorahnungen geplagt. (Bild Jürg Huber)
Elm. – Die Schauspielerin Cornelia Montani benötigt nicht viel auf der
Bühne im Elmer Gemeindehaussaal: vier Scheinwerfer, ein Tabourettli, einen
Stuhl, einen kleinen Tisch, eine Staffelei mit einem Leinentuch – und
Katharinas Bäbi.
Katharina ist die Hauptfigur von Franz Hohlers ergreifender Novelle
„Die Steinflut”, die dem Theaterstück zugrunde liegt. Als die siebenjährige
Katharina Disch mit ihrem vierjährigen Bruder Kaspar am Freitag, den
9. September 1881, zu ihrer Grossmutter Richtung Bleiken geht, ahnt
sie nicht, dass sie erst wieder bei ihrer Hochzeit von hier weggehen würde.
Geplant ist lediglich, dass sie hier oben bleiben soll, bis die Mutter ihr
sechstes Kind geboren hat. Doch dann kommt der Elmer Bergsturz dazwischen.
Die Tiere spüren das Unheil zuerst
Die Schauspielerin Cornelia Montani versteht es meisterhaft, die Angst des
Kindes erlebbar zu machen. Sie schlüpft in die verschiedenen Charaktere,
zieht alle Register ihrer variantenreichen Stimme. Sie miaut, wenn
es um Züsi, die Katze geht, die plötzlich im Bleiken auftaucht. Sie gackert,
wenn sie die Hühner nachahmt, auch die fremden, die – woher kommen sie
überhaupt? – auf Würmersuche sind. Sie bellt, wenn es um Nero, den Hund
geht. Ihre Gestik ist ebenso reich, ihre Bühnenpräsenz überwältigend.
Es gibt Szenen, welche die Zuschauer schmunzeln lassen. Etwa,
wenn sich Katharina überlegt, was das bedeute, dass die Hebamme Verena so
geschickt sei, dass sie sogar ein Kind mit den Füssen voran zum Bauch der
Mutter herausholen könne. Oder wenn dargestellt wird, wie sich Katharina
in der Schule langweilt, weil man im ersten Jahr zusammenzählen lernt
und im zweiten dann das Gegenteil.
Alles geht unter in der Steinflut
Dazwischen wird immer wieder das Rumpeln des Berges thematisiert, als
Spiegel der Gespräche am Wirtshaustisch und als Spiegel von Katharinas
Gedanken, die immer mehr von Ängsten durchzogen sind. Seit Tagen regnet
es. Ständig lösen sich kleinere Gesteinsmassen vom Berg und stürzen
krachend zu Tal. Einige der Felsbrocken kommen den Häusern bedrohlich
nahe. Dennoch harren die meisten Dorfbewohner aus. Katharina
sieht, wie die Bäume im Tschingelwald schief stehen. Sie spürt, dass sich
etwas zusammenbraut. „Lieber Gott, mach, dass der Felsbrocken nicht auf
unser Haus runterfällt”, betet sie.
Inzwischen ist das Schwesterchen auf die Welt gekommen, sie könnte
wieder bergab. Aber Katharina weigert sich. Sie bleibt alleine zurück und
wird auch als Einzige der Familie überleben. „Ein Krach wie tausend
Gewitter”, erzählt Cornelia Montani. Und dann geht das elterliche Wirtshaus
unter in einer gewaltigen Steinflut, welche 114 Menschen in den Tod
reisst. „Aus der Tiefe von diesem Steinmeer wird man niemanden mehr
je wieder darunter hervorholen”, heisst es am Schluss des Stücks. Es
wird dunkel. Es herrscht Grabesstille.
IRÈNE HUNOLD STRAUB
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